UTAT ein Abenteuer aus 1001 Nacht
Ich sehe zum Boden und kann im Schein der Stirnlampe meine Schritte sehen. Mein Atem geht schwer, ich richte meinen Blick nach oben. Wie war das noch mit dem Sauerstoffgehalt auf Meereshöhe von 21% ? Und auf über 3.000 m ? Verdammt, ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich rutsche zur Seite weg und einer der Trail-Stöcke macht ein komisches Pling Pling ! Irgendetwas stimmt nicht, die Stöcke sind doch aus Carbon! Und wer redet hier so monoton aus dem Lautsprecher? Ich öffne langsam die Augen. Der Kapitän hat das An-schnallzeichen angeschaltet und gibt soeben durch: 20 Minuten bis zur Landung. In zwanzig Minuten werde ich wieder in der geordneten Welt sein. Ich lehne mich noch einmal zurück und denke daran wie alles angefangen hat letzten Dienstag. Was für eine Nummer!
Eigentlich fing alles noch viel früher an. Mitte 2013 hatte ich das erste Mal von dem Lauf ge-hört. Ein Lauf über 105 Kilometer im Atlasgebirge. Bei meiner Recherche stieß ich auf einige wenige Berichte unter anderem von Joe Kelbel. Ich war fasziniert von der Vorstellung, einen Lauf in Marokko zu absolvieren. Ein Rennen über 105 Kilometer mit 6.500 Höhenmetern im Auf-/Abstieg im Hohen Atlas. Ich beschloss, den Lauf für die nächsten Jahre nicht aus den Augen zu verlieren.
Anfang 2015 war es dann soweit, alles passte in meinen Zeitplan und mein Zeigefinger tippte mit gemischten Gefühlen auf die linke Taste der Mouse: „Registrieren.“
Dienstag, den 29.09.15 sitze ich im Flugzeug, zehn Reihen vor mir sitzt Kawi, der ebenfalls von der Idee fasziniert war. Ich freue mich auf den Lauf, freue mich auf ein Abenteuer. Ich denke, nein ich weiß, ich bin gut vorbereitet. Vor vier Wochen war ich noch mit meiner Teampartnerin Tanja beim Transalpine Run und habe mir den letzten Schliff geholt.
Wir verlassen den Terminal in Marrakesch, draußen ist es schon dunkel und es ist angenehm warm. Auf dem Parkplatz werden wir freundlich begrüßt und auf uns wartet ein Kleinbus, der uns nach Oukaimden bringen soll, das ca. 1,5 Stunden weiter südlich auf 2.600 m im Atlas liegt. Nach 30 Minuten steigt die Straße langsam an. Die Siedlungen werden immer spärlicher und kündigen ein Verlassen der Zivilisation an. Hier und dort tauchen immer wieder Fahrrad-fahrer und Personen auf, die ohne Licht auf der Straße unterwegs sind und erst im letzten Moment von unserem Lichtkegel eingefangen werden. Die Straße wird holpriger und man kann deutlich erkennen, dass sie immer wieder verschüttet und freigeräumt wurde, Geröll und Asphalt wechseln sich ab. Der Vollmond lässt hin und wieder einen Blick auf die riesigen Bergspitzen zu. Wenn das so weiter geht, sind wir gleich mit dem Mond auf Augenhöhe den-ke ich scherzhaft. Die Straße wird flacher und endet in einem Hochtal. Wir sind am Ziel. Will-kommen im hier und jetzt, Willkommen im Nichts. Wir sind in Oukaimden.
An einer Hütte vom französischen Alpenverein werden wir mit unserem Gepäck ausgesetzt. Sie wird sich später als Dreh- und Angelpunkt herausstellen. In einem großen Zelt, das mit Teppichen ausgelegt ist, bekommen wir noch ein Abendessen und von der Organisation un-ser Zelt zugewiesen. Die angenehmen 25° aus Marrakesch haben sich auf 2600 m. ü. M in kalte 6°C verwandelt. Bevor ich im Zelt verschwinde, riskiere ich noch einen Blick zum Him-mel. Ein Sternenhimmel, der seinesgleichen sucht. Alleine für diesen Blick hat sich der Weg hierher schon gelohnt.
Die Nacht ist kalt, sehr kalt! Irgendwann weckt mich der Ruf zum Gebet. Als der Morgen dämmert, verlasse ich das Zelt und stelle fest, dass sich auf meinem Schlafsack teilweise Eis befindet. Die Nacht war kalt! Der Tag verläuft relativ unspektakulär, er ist zur Akklimatisie-rung gedacht. Frühstück, Tee trinken, duschen, Kaffee trinken, Kontrolle der Pflichtausrüs-tung und Ausgabe der Startnummern, Cola trinken, mit anderen Teilnehmern quatschen, Bier trinken, Sonne genießen und warten auf das Briefing am Abend. Das Briefing läuft erstmalig dreisprachig ab. Begonnen wird mit Französisch, es folgt englisch und zu guter Letzt deutsch. Oliver Binz, der für diesen Lauf Ansprechpartner im deutschsprachigen Raum ist, übersetzt das Ganze auf Deutsch. Auf den 105 Kilometern gibt es vierzehn Kontrollstellen (CP), an drei davon gibt es Verpflegung, an des restlichen nur etwas zu trinken. Tabletten zum Entkeimen von Bachwasser gehören zur Pflichtausrüstung und werden streng kontrolliert. Die ersten 11 Kilometer haben einen Anstieg von 500 Höhenmetern und führen über den ersten Pass von 3.100 m, anschließend geht es die nächsten 20 Kilometer relativ gelassen weiter bis CP 3. Beim nächsten Streckenabschnitt warte ich nicht mehr auf die deutsche Übersetzung son-dern lausche der englischen Ausführung: „The route from CP 3 to CP 12 of about 58 km is completely isolatet and wild. This section is the hardest section with brutal descant - 2.000 m.“ OK, Frank und ich sehen uns an und denken beide das gleiche: „Morgen werden wir richtig Prügel beziehen.“ Auf 9 Kilometern einen Downhill von 2.000 Höhenmetern und das nach 78 km des Rennens. Wir bekommen den Hintern versohlt und genehmigen uns zum Abschluss noch einen Rotwein. Ziel ist es, morgen zu finishen!
Das Rennen
Am nächsten Tag stehen wir mit über achtzig anderen Ultraläufern um kurz vor sechs an der Startlinie. Es ist noch dunkel und alle sind nervös. Es wird von zehn an runtergezählt und dann ist es soweit: Bon voyage!
Kawi und ich laufen zusammen los. Die ersten 11 km geht es über breite Wege nach oben. Nach einer Stunde werden wir mit einem grandiosen Sonnenaufgang belohnt. Das violett des Himmels lässt die Berge mythisch erscheinen. Wir bleiben für einen Augenblick stehen und bewundern diesen Ausblick. Umgeben von schroffen Bergketten laufen wir über den ersten Pass und folgen dem downhill fast 15 km Die Sonne schiebt sich über die Bergspitzen und mit ihr kommt die Wärme in unsere Glieder.
Wir erreichen das erste Berberdorf. Die Menschen hier leben noch sehr abgeschieden. Schmale Singletrails führen durch die, aus Lehm gestampften Häuser. Vor uns rennen spielende Kinder und eine Frau auf einem Esel bewegt sich über die Pfade.
„Bonjour! Bonjour“ rufen die Kinder uns zu und laufen ein Stück mit uns. Neugierig schauen uns ihre Kinderaugen an. Alles erinnert mich an die Doku „Länder, Menschen, Abenteuer“. Nur ist alles echt, kein 2D, nicht einmal 3D mit DTS! Nein, das hier ist echt, man fühlt, riecht und schmeckt das Leben, das andere uns fremde Leben. Kawi, ich und der Rest sind ein Teil dieser Dokumentation. Ich bin überzeugt, hier zu starten war das Richtige. An einem Berg-hang geht es durch weitere Berberdörfer. Der Geruch reicht von neutral bis unerträglich, doch die Faszination neutralisiert mein Empfinden. Was geht wohl diesen Menschen durch den Kopf? Sie wohnen in einem Haus aus Lehm, ihr ganzer Besitz, ihr Vieh wohnt mit ihnen dort, weit ab von den, uns so selbstverständlichen Dingen. Es wird immer ihr Geheimnis bleiben. Bei Kilometer 30,5, erreichen wir CP 3, den letzten VP, bei dem man aus dem Lauf noch aussteigen kann und mit dem Auto in die Zivilisation kommt. Ab jetzt ist Schluss mit lustig. Wer auf den nächsten 58 Kilometer aussteigen will, muss sich bis zum nächsten CP durch-kämpfen und dort übernachten, um am nächsten Tag nach dem Abbau des CPs den Rück-weg zu Fuß anzutreten.
Wir wollen nicht raus, wir wollen weiter! Nach einer Flussquerung in einem tiefen Taleinschnitt auf 1.600 m beginnt für uns für die nächsten 20 km ein langer Aufstieg auf den 2. Dreitau-sender Pass. Mit einer kleinen Unterbrechung von 200 Höhenmetern geht es über CP 4 ins-gesamt 1.600 HM nach oben. Nach der Hälfte des Aufstiegs läuft Houda, eine Marokkanerin auf uns auf. Wir laufen zusammen. Es geht stetig nach oben. Mir geht es auf einmal nicht gut. Ab Kilometer 44 baut mein Körper ab. Mir ist schlecht, ich bekomme stechende Kopfschmer-zen. Es kommt wie angeflogen. Ich verliere den Anschluss zu Frank und Houda, sage zu ihnen, sie sollen ruhig weiterlaufen. Dieses Gefühl ist neu für mich. Von einer Minute auf die andere denke ich an Rennabbruch. In meinem Kopf kämpfen Engel und Teufel. Nach zwan-zig Minuten sieht es richtig gut für den Teufel aus. Würden die beiden Fußball spielen, stünde es nach der Halbzeit 50:1 zu Gunsten des Kollegen aus der Unterwelt. Ich komme mit dieser Situation nicht zurecht. Gebe ich auf? Mache ich weiter? Ich versuche meine Frau Iris mit dem Handy zu erreichen. Kein Netz! Warum in Gottes Namen sollte ich eigentlich die Num-mer des Veranstalters in meinem Handy eingeben? Vielleicht wäre die Ausgabe einer Leucht-rakete sinnvoller gewesen! Ich bin im Nirgendwo, das ist mir auf einen Schlag klar geworden. Nach Spielende von Gut und Böse, steht mein Entschluss fest. Ich sitze hier in einem Hochtal und die Tränen laufen mir über die Wangen. Ich zittere, bin wütend und von mir selbst end-täuscht. Es war ein Abenteuer, aber eine Nummer zu groß für mich. Am CP 4 bei 49,5 km steige ich aus. Ich gebe auf!!
Eine halbe Stunde später sehe ich das Zelt von CP 4. Kawi und Houda sind ebenfalls vor Ort und machen eine Pause. Ich spreche mit einem Franzosen vom Orga-Team, das ich raus will, bitte ihn aber noch um 10 Minuten Bedenkzeit. Ich lasse mir den Trinkrucksack noch einmal mit Wasser aus dem Bach auffüllen, eine Tablette zum Entkeimen rein. Ist eh alles egal. Ich sitze auf einem Stein und beobachte zwei Teilnehmer, die von dem nächsten Drei-tausender wieder abgestiegen sind. Einer von beiden hat sich übergeben. Es gibt noch wel-che, denen geht es deutlich schlechter als mir. Im Kopf gehe ich nochmal meine Optionen durch.
1. Ich steige hier aus und übernachte auf 2.500 m und friere mir mit einer Decke richtig den Zapfen ab.
2. Ich gebe nicht auf und mache mich innerhalb der nächsten 15 Minuten wieder auf den Weg auf den nächsten Pass. Sollte mir es dann noch schlechter gehen könnte ich wieder absteigen und auf Option 1 zurückgreifen.
3. Ich laufe 4 Stunden zurück und versuche in Fatma eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren.
Für welches Tor entscheide ich mich nun? Wo ist der Zonk? Wo ist der Hauptgewinn?
Nach 10 Minuten ruft mir der Franzose ein „Bon Courage“ hinterher. Das macht mich stolz, aufgeben kann ich immer noch! Nach etwas mehr als einer Stunde bin ich nach Sonnenun-tergang am CP 5. Die Betreuerin fragt mich, wie es mir geht. Meine Kopfschmerzen sind ver-schwunden, mein Name ist Frank Hardt und ich bekomme wieder Luft. Sie wünscht uns drei viel Erfolg und entlässt uns zum nächsten Kontrollpunkt bei Kilometer 68. Wir laufen, gehen durch die Nacht. Die 16 Kilometer ziehen sich endlos in der Nacht. Um 0:00 Uhr nach fast 18 Stunden seit dem Start kommen wir an Station CP 6 an. Umgeben von dem Schwarz der Nacht liegt hier im Nirgendwo diese Oase. Wir werden für die Verhältnisse fürstlich versorgt. Es gibt Suppe, Kartoffeln, Wurst, Käse, Decken und auf Wunsch auch eine Massage. Wir beschließen eine Ruhepause von maximal einer Stunde zu machen. Ich lege mich unter eine Decke und schließe meine Augen. Vor fünf Stunden wollte ich noch aufgeben. Und jetzt? Die Leute vom Orga-Team machen hier eine Wahnsinnsarbeit. Sie haben sich zum Teil einen Tag vor dem Start schon mit Maultieren auf den Weg zu den CPs gemacht, nur um uns hier zu versorgen. Sie alle sind in meinen Augen Helden!
„ Bon Courage“
Wir sind wieder im Spiel. Jetzt wird sich zeigen, ob wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. In drei Etappen geht es bis zum höchsten Punkt des Ultratrails. Es geht auf den Tizi Tichki mit sagenhaften 3.690 m. An den folgenden zwei Kontrollpunkten immer wieder das gleich Schauspiel. Wie ist dein Name? Ein Blick in die Augen! Wie geht es dir?
Unsere kleine Gruppe von drei Personen ist leicht auseinander gezogen. Kawi ist ca. 100 Me-ter vor mir und Houda 100 Meter hinter mir. Sie sind nur am Leuchten ihrer Stirnlampen aus-zumachen. Ich komme auf den Sattel auf 3.400 m. ü. M. Frank hat sich am CP 8 hingesetzt, er will sich einem Moment ausruhen. Ich frage, ob alles in Ordnung ist. „ Alles OK, mir ist nur kalt“ antwortet er. Wir vereinbaren, dass ich weiter gehe. Die letzten 300 Höhenmeter erwar-ten mich. Was danach auf mich wartet? Wer weiß das schon!
Ich sehe zum Boden und kann im Schein der Stirnlampe meine Schritte sehen. Mein Atem geht schwer, ich richte meinen Blick nach oben. Wie war das noch mit dem Sauerstoffgehalt auf Meereshöhe von 21% ? Und auf über 3.400 m ? Verdammt, ich kann mich nicht mehr erinnern. Es sind auf jeden Fall weniger als 15%, da bin ich mir sicher. Vor mir kann ich den Schein einer Lampe erkennen. Der Wind hier oben ist kalt. In dem fahlen Mondlicht kann ich den mächtigen Toubkal mit seinem schneebedeckten Gipfel erkennen. Noch wenige Meter und ich habe es geschafft. Noch vier, drei, zwei Schritte. Mir läuft eine Träne über die Wange, doch dieses Mal war der kalte Wind der Auslöser. The Summit, yes! Und weil es so schön passt, haue ich noch eine Träne aus Freude hinterher.
Bodycheck: Atmung schnell, jeden Schlag meiner Pumpe spüre ich in meinem Ohr. Beine sind OK. Ich gehe noch einmal für mich die wichtigste Frage durch: Hey Alter, bist du in der Lage den langen Downhill in der Nacht nach dieser Anstrengung zu meistern? Hast du die Konzentration? Bekommst du noch die Koordination auf die Reihe?
Es sind 2.000 Höhenmeter steil herunter und das im Endeffekt auf weniger als 10 km. Ich beschließe an CP 10 eine kleine Pause einzulegen, nur kurz sammeln. Ich will nichts riskie-ren. Hier zu stürzen ist kein Kindergeburtstag, vor allem nicht, wenn die Netzanbindung noch 3 h entfernt ist. Vielleicht kommen Houda und Kawi noch und wir können zusammen runter.
Nach 15 Minuten luge ich aus dem Zelt hervor, mein Blick Richtung Gipfel. Ich kann keine Lichter ausmachen. Vielleicht pausieren sie noch.
Zur Sicherheit tausche ich die alten Batterien der Stirnlampe aus. Ich höre noch gespannt auf die Warnung des Postens an CP 10, der mir die Schwierigkeiten der Strecke erläutert. Seine letzte Frage: „ Fühlst du dich fit?“ quittiere ich mit einem „Oui.“
Die Markierungen der Strecke sind sehr gut zu erkennen, sie leuchten im Schein der Lampe richtig auf. Rechts und links des Abstiegs tauchen in der Dunkelheit nach einigen Metern bergab mächtige Felswände auf. Sie begrenzen den Downhill in beide Richtungen auf viel-leicht 30 m. Zwischen diesen Wänden befinden sich die Serpentinen von denen man maximal drei ausmachen kann, weil der Abstieg konvex nach außen abfällt.
Verflixt nochmal, ist das steil hier! Auf die Felsen mit Signalfarbe aufgetragene Ausrufezei-chen unterstützen meine Aussage. Der Untergrund wechselt ständig.
Die Serpentinen ziehen sich ohne Ende. Nach einer Stunde gesellt sich ein Bachlauf zu mir. Soll ich einen Blick auf die Uhr riskieren? Die Minuten kommen mir vor wie Stunden. In ei-nem Augenblick der Unachtsamkeit haut es mich rückwärts auf den felsigen Untergrund. Ich puste, spucke und fluche was das Zeug hält. Check: Nichts gebrochen. Ich bleibe einen Mo-ment im Dreck liegen und atme tief durch. Ich blicke auf die Suunto, der Höhenmesser verrät mir, was ich befürchtet hatte. Die Anzeige steht noch immer auf 3.150 m. ü. M. Erst ¼ des Downhills liegt hinter mir. Ich raffe mich auf und steige weiter hinab in das Dunkel der Nacht. Nach einer halben Stunde taucht ein CP auf. Das Übliche: Name: Mickey Mouse, Befinden: Wie wohl! Irgendwelche Schmerzen: Darauf kannst du einen lassen! Dieses denke ich nur und mache gute Miene zum Spiel. Weitere 20 Minuten und 300 Höhenmeter tiefer haut es mich schon wieder von den Socken. Dieses Mal liege ich auf der Seite. Ich schreie laut auf und werfe mit Ausdrücken nur so um mich, es ist sowieso niemand hier, den das Stören könnte. Mir auf jeden Fall hilft das und ich kann mich abreagieren.
In der Ferne kann ich ein Tal erkennen, die Morgendämmerung hat eingesetzt. Thank‘s God, it’s Friday!
Die letzten 2 Kilometer bis Imlil ziehen sich wie Kaugummi, sie sind nicht steil aber die Ober-schenkel sind am Limit. Der Ort Imlil scheint ein Dreh- und Angelpunkt für Trekking Touren im Atlas zu sein. Eine deutsche Trekking Gruppe kommt mir entgegen und feuert mich an, die Hälfte von ihnen zückt ihre Digitalkamera um diesen Moment einzufangen. Ich zaubere ein Lächeln in mein Gesicht, jedenfalls denke ich, dass es so aussehen könnte. Das Ergebnis dieser Fratze werde ich wohl nie zu Gesicht bekommen.
Ich habe Netz! Ich rufe kurz meine Frau Iris an um zu sagen, dass alles palletti ist, Sie hat 16 Stunden nichts von mir gehört. In Imlil mache ich 40 Minuten Pause, ziehe mir ein frisches Shirt an, esse etwas. Vor mir liegen noch etwa 17 Kilometer mit rund 1500+/ 400- Höhenme-tern. Ich will jetzt ins Ziel. Ich laufe die Straße herunter, ja ich laufe, ein geiles Gefühl. Ein bei-ßender Geruch steigt mir in die Nase. Müllentsorgung auf marokkanisch. Der Müll wird ein-fach verbrannt. Ein leichtes Würgen überkommt mich. Auch das ist Afrika. Ein kleiner Peak 400 m rauf und 400 m runter mit einer Flussquerung im Tal bereitet mich auf den letzten fina-len Anstieg vor. Vom Fluss geht es durch ein Dorf fast 200 Höhenmeter nach oben. Ich komme an den vorletzten CP, von hier aus sind es noch 9 Kilometer. Am CP werde ich herz-lich empfangen. Ein großer Stuhl steht vor dem Zelt. Ich bekomme den Laufrucksack abge-nommen und die Trinkblase wird befüllt. Ich sitze auf dem Stuhl wie auf einem Thron. Von links werden mir Feigen gereicht, von rechts die Cola. Ich fühle mich wie ein König.
„ Du siehst noch fit aus,“ sagt einer der Betreuer. Ich wundere mich, es fühlt sich so an als würden meine Tränensäcke bis ans Kinn hängen.
„Ich muss den Sack nur noch zumachen,“ stammele ich und mache mich wieder auf den Weg. Die Landschaft ist grandios. Umgeben von roten Felsen und Sand führt ein Trail steil nach oben. Unterbrochen wird die bizarre Steinkulisse durch ein paar grüne Kiefern und Wachholderbüsche. Am letzten CP grüße ich freundlich, lasse mich anfeuern und laufe wei-ter. Ich muss den Sack endlich zumachen. Die Sonne ist über dem Zenit und es ist heiß ge-worden. In einiger Entfernung kann ich zwei marokkanische Flaggen erkennen, sie markieren den letzten Pass. Hinter diesem Pass liegt das Ziel. Der Lohn, der schlaflosen Nacht, das En-de aller Qualen der letzten 32 Stunden. Ich werde finishen! Ich bin bereit!
Ich stehe zwischen den Fahnen, was jetzt kommt ist die Kür. Die Trail Stöcke zusammenge-klappt, schwebe ich den Hügel hinab. Die Anstrengungen der letzten 30 Stunden sind Ge-schichte. Die Teilnehmer, die vor mir das Ziel erreicht haben, stehen zum Teil an der Strecke und feuern mich auf den letzten Metern an. Vielleicht noch 10 Schritte, 8,5,2….
Ich habe es geschafft. Ich bin im Ziel. Der Sack ist zu!
Was ich noch bei Kilometer 45 für unmöglich gehalten habe, ist doch noch Wirklichkeit ge-worden. Der Wind scheint irgendwie wieder meine Augen zu reizen
Ich erkundige mich bei der Rennleitung nach Frank, er ist zum Glück noch im Rennen. Er wird diesen Ultra auch erfolgreich finishen.
Am Ende sitzen alle Teilnehmer der 105 km, 42 km und 26 km zusammen und lassen den Tag bei dem ein oder anderen Bier oder Wein ausklingen bevor es am nächsten Tag zurück nach Marrakesch geht.
Nach der Landung sitze ich in meinem Auto und fahre durch die Nacht. Vieles geht mir durch den Kopf. Es war nicht einfach ein Lauf, es war ein Abenteuer, auf das man sich einlassen muss. Ich muss Joe Kelbel danken mit seinem Bericht von 2012. „Danke Joe, dass du mir den Floh ins Ohr gesetzt hast.“
Für 350 € bekommt man eine viertägige Betreuung, Frühstück, Abendessen, Startgeld, Übernachtung und Transfer von/nach Marrakesch. Der Flug geht extra.
Wer sich hier traut und öffnet bekommt noch viel mehr, und das kann man mit Geld nicht aufwiegen.
Traut euch!
la soledat del corredor