Die offene Rechnung

Ich stehe von der Couch auf, um zum Kühlschrank zu gehen. Bei den ersten drei Schritten verspüre ich einen ziehenden Schmerz in den Oberschenkeln. Das wird schon wieder, spätestens in zwei Tagen ist alles beim Alten. Die Müdigkeitist verflogen. Die Eindrücke der letzten zwei Tage noch frisch in meinem Kopf.

Flashback.....

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Samstag der 23.11.2013
Es ist 10:30 Uhr, ich sitze im Bus von Bonn nach Koblenz. Um 11:00 Uhr ich beim KoBoLT an den Start gehen. 140 km gespickt mit ca.4.450 HM. Ich lehne mich zurück, atme tief ein und entspanne mich, meine Gedanken fliegen in das Jahr 2012. Im November des letzten Jahres bin ich beim Kleinen KoBoLT gestartet. Ich war aufgeregt und nervös. Der Start war in Rengsdorf. Ich bin nach einem Kilometer mit dem rechten Fuß umgeknickt. Ich habe versucht, das Ding zu laufenaber nach 33 km war Schluss. Der Fuß war dick, die Schmerzen zu groß. Der erste DNF für mich in 9 Jahren seit ich mit dem Laufen begonnen habe. Die Stirnlampen, die ich im Wald auf dem Rheinsteig bei der Rückfahrt sah, ließen mich in Gedanken versinken. Ich sagte mir: „Wir beide werden uns Wiedersehen.“

Und wir haben uns wiedergesehen.....und wie !! Schon ein halbes Jahr später beim WiBoLT habe ich ihm erfolgreich in den Allerwertesten getreten.
Doch die offene Rechnung hatte ich ihm in jener Nacht im Auto auf der Rückfahrt versprochen. Und ein Mann hält, was er verspricht!

23.11.2013 Start
Ich stehe auf der Plattform, der Ultrazug setzt sich in Bewegung. Um mich herum bekannte Gesichter. Man kennt sich. Meine Frau Iris, Kawi und Peter sind gekommen um dabei zu sein.
Die Überraschung ist gelungen.
Ich laufe mit THOR, es geht durch mein Revier, hier sind meine Hausstrecken.
Ich bin frisch, ich bin überzeugt, ich habe keine Zweifel.
Ich muss noch meinen Rhythmus finden. Bei km 18, die Uhr zeigt knapp zwei Stunden.
Ich bin zu schnell, schalte einen Gang zurück.
Es geht dem ersten VP bei KM 36 entgegen. Ich sauge die Landschaft auf, genieße die Bilder solange es noch hell ist. Auf mich warten 15 Stunden Trailrun mit Lampe in der Dunkelheit.
Nach dem VP laufen wir ein Weile zu dritt, Torsten und Dieter sind mit von der Partie.
Ich brauch kein Navi, kenne mich aus wie in meiner Westentasche.
Dieter hat sich abgesetzt. Bis zum nächsten VP bei Kilometer 68 hinter Rheinbrohl sind es noch 25 km, was soll's, es läuft.
Die VP's lassen keine Wünsche offen. Es gibt Nudelsuppe, Malzbier usw.. Der Wortlaut vor dem Start war: „Wenn es sein muss, dreh ich für euch die Hölle auf links, ihr müsst nur sagen, was ihr wollt.“
Wir reisen durch die Nacht. Up and down, der Rheinsteig verlangt dir einiges ab. Die kurzen aber knackigen Anstiege sind zermürbend. Die Kilometer werden länger. Ich danke meinem photographischen Gedächtnis. Hier und da mal kurz überlegen und die Orientierung stimmt wieder. Torsten dankt seinem lebendemNavi :-).
Der dritte VP liegt auf der Erpeler Ley bei KM 90. Der Aufstieg ist nach 89 km hart, wir fluchen im Chor. Noch 400 m, 300 m...noch 100 m. Die VP's sind kleine Oasen in der dunklen Novembernacht, Rettungsboote in einer kalten Nacht. Hierbei Kilometer 90 habe ich ein Dropbag hinterlegt. Ein kurzer Check. Die Füßesind noch dran, keine Blasen. Trockene Klamotten an und ab dafür, die letzten 50 km warten. Das Bergablaufen wird schwieriger, die Oberschenkel melden sich.Der finstere Wald spuckt uns bei dem Örtchen Unkel aus. Wie entscheiden uns aneiner Tankstelle ein isotonisches Gebräu zu uns zu nehmen.
Der Kontrast ist unheimlich. Wir tauschen von einem Augenblick auf den anderen die Ruhe, die Kälte, Dunkelheit und die Enthaltsamkeit des Trails mit der hellerleuchteten, warmen und schrillen bunten Welt des Konsums. Auf einem Flatscreen an der Wand laufen Musikvideos. Die gläsernen Kühlschränke sind gefüllt mit allem, was man sich wünscht. In diese Welt passen wir nicht hinein, nicht in dieser Nacht. Es ist unecht, surreal.
Nach einem Sturzbier stehen wir auf, treten hinaus und werden aufs neue vom Wald verschluckt.
Ein langer Aufstieg, ich spüre den Herzschlag an meinen Schläfen. Bergauf ist es warm, beim Downhill friere ich. Ich glaube ich habe die Textilblindheit, die meistens eher die weibliche Bevölkerung betrifft. Ich weiß einfach nicht, wasich anziehen soll bei so einem Wetter.
Ich hab nix anzuziehen :-))
Im Siebengebirge lässt meine Orientierung zeitweise etwas zu wünschen übrig.
Der Anstieg zum Auge Gottes weiter Richtung Löwenburg. Wir treffen an einer Kreuzung auf zwei andere Läufer, die Probleme mit der Richtung haben. An dieser Stelle habe ich beim WiBoLT gesessen, orientierungslos. Jetzt sehe ich es klar, geradeaus. Aus der Dunkelheit ertönt die Frage: „Bist du sicher“?
„Ja.“
„Ganz sicher?“
„ Auf SWR 3 haben sie gesagt, 90% der Leute trauen ihrem Navi nicht und machen es anders!!“
Eine Stunde später waren wir wieder zu zweit, ohne uns zu verlaufen.
Wir erreichen Rhöndorf unterhalb des Drachenfels. Der letzte VP bei KM 115. Die Stimmung ist gut. Die letzten Drei warten auf uns. Drachenfels, Geisberg und Petersberg.
Wir quälen uns dem Himmel entgegen. Die Kraft ist weg. Der nächste Anstieg hinter dem Milchhäuschen zum Geisberg quetscht das letzte aus uns heraus. Nachder Geisberghütte ein längerer Downhill. Ich löse die Handbremse, lasse laufen. Ich muss die Beine mal das tun lassen, wofür sie gemacht sind und das sind keine kurzen, kleinen Stopp-Schritte auf dem Trail sondern lange entkoppelte Renn-Schritte. Ich fliege, genieße jede Sekunde. Ich lasse die kalte Luft meine Lungen aufblähen.
Einer kommt noch... und Petersberg ist sein Name. Mit dem Wissen, das er der letzte in einer langen Reihe von Bergen in diesem Rennen ist, fällt uns der Aufstieg gar nicht so schwer. Bergab begegnen uns Sonntagsläufer auf ihrer Runde. Sie sind schnell...hier und da ein Grinsen, wenn die wüssten... Die letzten Kilometer ziehen sich, doch irgendwann ist der Rhein in Sicht.
Ich kann sagen, dass ich völlig frei gelaufen bin, ich habe jede Minute genossen...ja auch die, in denen ich mich quälen musste. Ich habe meinen Gedanken Freiraum gegeben. Der Lauf durch die lange Nacht war nicht einfach aber mit Torsten hat sie nur halb solange gedauert. Immerhin sind wir letzten Endes 100 km zusammen gelaufen. Auf den letzten Metern zu wissen, dass man dasDing in der Kiste hat, ist ein unbeschreibliches Gefühl.
Als wir auf den letzten Metern zum Ziel rollen, überraschte mich noch Daniela, ein Mitglied von unseren Lauftreff, die auf dem Rückweg von Köln nach Koblenz war und einen kurzen Stopp einlegte.
Auch nach dem Duschen und dem Nachlaufbier fühlt sich, bis auf die Müdigkeit,mein Körper noch erstaunlich gut an.

Alles richtig gemacht.

It's done when it's done.

Die Rechnung ist beglichen!!!!!

 

Fraggle

la soledat del corredor